Montag, 30. August 2010

Deine Straßen!

Hast du dich schon mal gefragt, wer die Straßen benennt, durch die du gehst? Welche Person, welcher Ort, welches besondere Merkmal oder vielleicht welche Errungenschaft sich in einem Straßennamen manifestiert? Und: was, glaubst du, sollte die Ehre einer solchen Benennung eigentlich rechtfertigen?

Täglich passieren wir Straßen und die ihren Namen anzeigenden Schilder, wir finden sie im Stadtplan, im Firmennamen und damit in der Werbung. Eine Straßenbenennung ist nicht nur aufgrund ihrer feierlichen Einweihung mit Sektempfang und Enthüllung des Schildes etwas, das Bestand haben soll. Sie stellt auch deshalb etwas Dauerhaftes dar, weil eine Umbenennung sehr umständlich ist: sie ist zeit- und kostenintensiv und kann Verwirrung stiften. In einer Großstadt wie Hannover gibt es eine beträchtliche Anzahl von Straßen; für alle galt und gilt es Namen zu finden.


Doch ist dies Grund genug, an und unter den mehr als menschenhohen Schildern achtlos vorbeizugehen, oft mehrmals täglich und ebenso oft in Unkenntnis über Bedeutung und Herkunft des Namens?
Straßen werden nicht nur nach Vogelarten, Handwerkszünften, Partnerstädten und umliegenden Gemeinden benannt, sondern auch nach (meist männlichen) Persönlichkeiten. Es gibt in unserer schönen Stadt ein Musiker- und ein Philosophenviertel, dessen Straßen nach verstorbenen, mehr oder minder bekannten und verdienten Personen benannt sind.

Und es gibt die List. Ein großer Teil der hiesigen Straßen ist nach Schlachten des 19. Jahrhunderts und militärischen Größen benannt. Sie erinnern, freilich deutsch ausgesprochen, etwa an die Schlacht von Sedan im September 1870 im deutsch-französischen Krieg. In ihr starben mehr als 6.000 Menschen. Ein Grund zur Freude? Ein Grund, dem deutschen Sieg bei Sedan eine Straße zu widmen?

Auch die Befreiungskriege finden Niederschlag im Stadtplan der List. Knapp 20.000 Menschen starben im September 1813 in der Schlacht von Dennewitz. Die Dennewitzstr. ist dem Sieg der preußischen Armee gewidmet.

Ein weitaus größerer Teil ist nach namhaften Militärs benannt. Erstaunlicherweise findet sich unter diesen eine Vielzahl preußischer Generäle, die u.a. im sogenannten „Deutschen Krieg“ 1866 das Königreich Hannover besiegten und annektierten. Allen Geehrten ist gemein, dass sie militärische Befehlshaber von einigem Rang waren. Sie schlugen Schlachten, meist erfolgreich, sonst wären sie nicht geehrt worden. Und nicht alle repräsentieren die Sternstunden hannoverscher, preußischer, deutscher und europäischer Geschichte.

Alfred Graf von Waldersee (1832-1904), 1866 zunächst Adjutant im königlich preußischen Großen Hauptquartier, 1870/71 dann Flügeladjutant des preußischen Königs, später zum einflussreichen Stellvertreter des Generalfeldmarschalls Helmuth Graf von Moltke aufgestiegen, und somit politisch von einigem Gewicht, entwickelte in den 1880er Jahren Pläne zu einem Präventivkrieg gegen Frankreich und Russland. Sein Plan wurde weiterentwickelt und im ersten Weltkrieg als „Schlieffenplan“ unter völkerrechtswidrger Verletzung der belgischen Neutralität durchgeführt. 1897 forderte er (erfolglos) die Erneuerung der bismarckschen repressiven Maßnahmen gegen die Sozialdemokraten, bevor er 1900 zum Generalfeldmarschall ernannt wurde. Im selben Jahr erhielt er den Oberbefehl über die Interventionstruppen der europäischen Kolonialmächte. Diese sollten in China dem sogenannten „Boxeraufstand“ entgegentreten. Waldersee und die deutschen Truppen wurden im Juli 1900 von Kaiser Wilhelm II. mit der Hunnenrede verabschiedet („Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht.“). Der „Boxeraufstand“ in China wurde unter seiner Führung blutig niedergeschlagen, die von Kaiser Wilhelm II. geforderten Maßnahmen in die Tat umgesetzt.

Albrecht von Roon (1803-1879), nach welchem die Lister Roonstr. benannt ist, absolvierte zunächst eine klassische preußische Militärlaufbahn. Im Jahre 1849 nahm er als Chef des Generalstabs des VIII. Armeekorps an der blutigen Niederschlagung der Badischen Revolution teil und wurde daraufhin zum Oberst und später zum Generalmajor befördert. Eine bedeutende politische Rolle spielte Roon im preußischen Verfassungskonflikt Anfang der 1860er Jahre. Er war bedeutender Fürsprecher der wilhelminischen Heeresreorganisation und an der Seite Bismarcks auch bereit, sie mit absolutistischen Mitteln unter Ausschaltung demokratischer Ansätze im preußischen Abgeordnetenhaus durchzusetzen. An der Seite Bismarcks verfolgte er, nun als preußischer Kriegsminister, die Blut-und-Eisen-Politik seines Ministerpräsidenten. In seine Amtszeit als Kriegsminister fallen der deutsch-dänische Krieg 1864, der deutsche Krieg 1866 und der deutsch-französische Krieg 1870/71 mit unzähligen Toten.

Zwei weitere Beispiele, aus der Calenberger Neustadt, einem anderen hannoverschen Stadtteil. Der Waterlooplatz, mit drei U-Bahnlinien versehen, mit einem Festplatz, oft von Zirkuszelten bestanden. Sein Name erinnert an die Schlacht von Waterloo, oder französisch: Belle-Alliance, am 18. Juni 1815 und vor allem erinnert sie an den Sieg unter anderem der preußischen und hannoverschen Armeen. In dieser Schlacht wurden annähernd 50.000 Menschen getötet oder verwundet.

Das Weddigenufer, ebenfalls in der Calenberger Neustadt gelegen, erinnert an Otto Weddigen (1882-1915). Dieser war einer der ersten U-Boot-Kommandanten im ersten Weltkrieg. Seine Erfolge in Form von Abschüssen gegnerischer Schiffe wurden in Deutschland gefeiert. Besonders begeistert war man hierzulande über die (völkerrechtswidrige) Versenkung dreier Handelsschiffe. Sein Tod auf See wurde in der Folgezeit propagandistisch ausgeschlachtet, Weddigen zum Kriegshelden verklärt.

An all diesen bewegten Namen gehen wir täglich vorbei, zumeist wohl ohne über die Bedeutung nachzudenken. Warum heißen unsere Straßen, wie sie heißen?

Tradition ist mehr als bloße Gewohnheit, sie trägt erheblich zur Identifikation mit Wohnort und Stadtviertel bei. Aber sie erfordert die Reflexion der Betroffenen über die Gebräuche und deren stetige Überprüfung auch an den sich im Laufe der Zeit wandelnden Maßstäben. Geschichtsvergessenheit hilft auch der Tradition nicht weiter.

Weddigen, Waldersee, Waterloo – wie viel Ausdruck von Kriegsbegeisterung kann sich eine Stadt wie Hannover, im zweiten Weltkrieg durch zahlreiche Tote, auch in der Zivilbevölkerung, und über 50%ige Zerstörung schwer gezeichnet, leisten, bevor sie und ihre Bürger sich den Vorwurf der Geschichtsvergessenheit gefallen lassen müssen?

Wünschenswert wäre eine ergebnisoffene Diskussion darüber, ob der preußische Militarismus auf Lister Straßenschildern zeitgemäß ist; ein Nachdenken darüber, welche Geschichte und welche geschichtlichen Taten sich mit den ausgestellten Namen verbindet und nicht zuletzt: das Hochschauen eines jeden auf die Schilder, die Nachforschung über ihre Bedeutung, gerade in einer Zeit, die die Informationsbeschaffung zu einer Sache von Sekunden macht.